Die Identifikation mit dem Aggressor oder Knatsch ist vorprogrammiert

Das psychische System funktioniert nach eigenen Regeln. Das oberste Prinzip ist, dass unangenehme Gefühle wie Angst, Scham, Schuld, Neid und Eifersucht vom Bewusstsein ferngehalten werden sollen.

Um dies zu erreichen, setzt es Abwehrmechanismen ein. Die Projektion sorgt dafür, dass unangenehme Gefühle nach aussen, auf andere verschoben werden. Zum Beispiel spürt man selbst keine Aggression, eher empfindet man andere als aggressiv und fürchtet Gespenster und Räuber.

Der umgekehrte Vorgang wird Identifikation genannt. Angenehme Gefühle werden dem eigenen Ich zugeschrieben. Beispielsweise ist die Mutter glücklich und beschwingt, das Kind fühlt sich gleich auch so. Oder das Kind ist ängstlich in einer schwierigen Situation, doch die Eltern sind zuversichtlich, dass alles gut geht. Das Kind beruhigt sich.

Die Psyche verhält sich so, wie es Kinder mit dem Essen machen: Was ihnen schmeckt, schlucken sie herunter, was ihnen nicht schmeckt, wird ausgespuckt. Nun könnte man denken, dass die Psyche optimal für unser Wohlbefinden sorge. Wir werden im Folgenden sehen, dass die Abwehrmechanismen die Lebensqualität einschränken. Eine scheinbare Ausnahme von der Regel stellt die «Identifikation mit dem Aggressor» dar. Hier identifiziert man sich mit etwas, das einem Angst macht.

Wozu soll das gut sein?

Hier ein Beispiel von Anna Freud: Ein kleines Mädchen traut sich nicht, das Vorzimmer der Wohnung zu durchqueren; die Dunkelheit löst bei ihr Angst vor Gespenstern aus. Plötzlich ist sie imstande, durch den gefürchteten Raum zu laufen, allerdings mit sonderbaren Bewegungen. Kurz danach hört die Mutter, wie sie ihrem kleinen Bruder triumphierend mitteilt: «Du brauchst Dich im Vorzimmer nicht zu fürchten. Du musst nur spielen, dass Du selber der Geist bist, der Dir begegnen könnte.» Mit ihren magischen Gebärden imitiert sie offenbar die von ihr vermuteten Bewegungen der Geister. Wenn sie sich verhält wie der gefürchtete Geist, muss sie sich nicht fürchten.

Halloween funktioniert nach diesem Prinzip: In der Nacht, in der die Geister der Toten kommen, verkleiden sich die Menschen als furchterregende Gestalten und stellen Kürbisse mit Fratzen in die Fenster. Die Geister sollen Angst vor ihnen haben und fern bleiben. Es ist kein Widerspruch zur Regel, dass wir uns das Angenehme einverleiben und das Unangenehme lieber aussen haben. Das Mädchen hat Angst vor dem starken und unheimlichen Gespenst. Es fühlt sich aber lieber selber stark und furchterregend als angstvoll. Dass sie überhaupt Angst vor dem Gespenst hat, ist die Folge einer Projektion. Offenbar empfindet sie die eigene Angriffslust als unangenehm und schreibt sie einem Gespenst zu. Wenn sie sich mit dem Gespenst identifiziert, wird der Vorgang nicht rückgängig gemacht. Das würde nämlich heissen, dass sie spürt, dass sie gerne andere angreifen würde und dass ihr dieser Impuls Angst macht. Es passiert etwas ganz anderes: Sie wird ein kleines Mädchen, dass ganz komische Bewegungen macht. Die automatischen Abwehrmechanismen haben dafür gesorgt, dass sie lächerlich wird.

Alle Kinder haben Angst, wenn Eltern mit ihnen schimpfen. Sie ängstigen sich schon, wenn sie nur vermuten, dass Eltern mit etwas unzufrieden sein könnten. In diesen Fällen ist die Identifikation mit dem Aggressor sehr beliebt. Das Kind spielt den wütenden Elternteil, vor dem es Angst hat: es schaut böse, spricht nicht mehr oder schimpft seinerseits mit den anderen, als wären diese die fehlbare Person. Vorteile für das Kind sind, dass es die Angst nicht mehr spürt, an die Stelle der Angst tritt die Wut. Das ist eine viel angenehmere Empfindung, denn dabei fühlen wir uns stark. Ein weiterer Vorteil: es gibt keinen Grund mehr, sein Verhalten zu korrigieren, man muss nicht gehorchen. Nachteilig für das Kind ist, dass sein Verhalten uns irritiert. Die Beziehung ist nicht mehr herzlich, es gibt Knatsch.

Es ist wichtig für Sie zu wissen: das Kind kommt selbst nicht aus dieser aggressiven Haltung heraus, weil es dann gleich wieder die unheilvolle Angst spüren würde. Es braucht Sie, um die Herzlichkeit zwischen Ihnen wieder herzustellen. Das Kind ist in dieser Haltung schwer erziehbar, denn sein eigenes Gefühl (die Angst) ist abgekapselt, es spürt ein Gefühl (die Stärke, Wut), das nicht sein eigenes ist. Sie können nun einwenden, es sei ja gut, wenn das Kind keine Angst spüre. Das ist ein Trugschluss. Die Angst, die Liebe der Eltern, später den Lehrer, die Freunde und den Partner zu verlieren, ist ein ganz wichtiger Motor, sich zu einem sozialen Wesen zu entwickeln. Fällt dieser weg, ist alles egal – man kann tun und lassen, was einem beliebt. Schwierigkeiten in der Schule sind vorprogrammiert, schwererziehbare Jugendliche zeigen alle diesen Abwehrmechanismus. Oft denken Eltern in diesen Situationen, das Kind sei besonders eigenwillig und stark, es wolle seinen Kopf unbedingt durchsetzen. Sie bewundern es oft heimlich. Sie nehmen das Verhalten des Kindes für bare Münze. In Wahrheit ist die Identifikation mit dem Aggressor ein einsames Gefängnis: Aus Angst vor der Angst muss am Bösesein, am Vorwurf an die anderen festgehalten werden. Es hat keinen Platz mehr für Freude, für Herzlichkeit, für Begeisterung und Neugier.

Es gibt viele Menschen, die daraus einen Charakter entwickelt haben: Immer unzufrieden, immer nörgelnd und verurteilend. Nicht gerade das, was wir unseren Kindern für die Zukunft wünschen. Das Fazit: Wir müssen einen feinen Sinn entwickeln, wahre Stärke von der Stärke, die aus der Identifikation mit dem Aggressor stammt, unterscheiden zu lernen und den Kindern aus dieser Gefühlslage herauszuhelfen.

Es ist gar nicht so schwierig. Wahre Stärke erkennen Sie daran, dass jemand ruhig und bestimmt erklärt, warum etwas nicht geht und Gegenargumente entgegennimmt, sie durchdenkt und entweder aufnimmt oder widerlegt. Es ist auch stark, wütend zu werden, wenn einen jemand schlecht behandelt und man diesem mitteilt, man erwarte, anständig behandelt zu werden. Wenn man sich mit einer Figur identifiziert, die einem Angst macht, ist man starr, unfreundlich, stur, unflexibel und nicht fähig, auf den anderen einzugehen. Vorwürfe und Beleidigungen, drohen, einen Kopf machen und selbst Beleidigtsein sind klare Hinweise darauf, dass die zur Schau getragene Haltung ein Korsett ist, hinter dem sich Angst versteckt.

Wenn ihr Kind ein böses Gesicht macht oder schimpft, wenn Sie es tadeln oder gleich schimpfen werden, wird es wieder sich selbst, wenn Sie ihm sagen : «Du machst so ein böses Gesicht (oder Du schimpfst so) wie Mami (oder wie Du denkst, dass Mami gleich schimpfen werde). Ich glaube, Du hast Angst vor mir, wenn ich schimpfe oder wütend werde und machst gleich selbst so ein Gesicht, dann fürchtest Du Dich weniger.» Hier können Sie die oben stehende Geschichte vom Mädchen erzählen, das den gefürchteten Geist selbst spielt. Identifikation und Projektionen sind die ersten Abwehrmechanismen, die auftreten. Die kleinen Kinder bedienen sich ihrer sehr häufig.

Dieses Wissen kann man in der Erziehung nutzen. Die Kinder übernehmen die Haltungen der Eltern, bei denen sie sich wohl fühlen. Wenn wir liebevoll, ruhig und lustig sind, übernehmen sie das von uns. Wenn wir übelgelaunt, ungeduldig, nörgelnd sind, übernehmen sie das auch, weil es ihnen Angst macht. Das können wir durch Selbstdisziplin vermeiden. Unvermeidlich ist, dass wir verbieten und manchmal wütend werden, weil die Kinder nicht folgen, sich nicht an Regeln halten, uns schlecht behandeln. Das ängstigt Kinder ebenfalls, also müssen wir damit rechnen, dass sie sich mit dieser Haltung auch identifizieren und dasselbe mit uns machen.

Hier können Sie vorbeugen: Wenn Sie nach dem Schimpfen immer erklären, warum Sie etwas nicht wollen und warum Sie ein bestimmtes Verhalten wünschen, wird dem Kind klar, dass Sie nicht einfach aus heiterem Himmel böse werden. Die Kinder verstehen die Beweggründe der Erwachsenen nicht automatisch, sie denken ganz anders, nämlich nach dem Lustprinzip. Beispielsweise «Ich sehe, dass es Dir Freude macht, die Spaghetti auf dem Tisch und dem Boden zu verschmieren. Das Dumme daran ist, dass ich sie wieder aufputzen muss, und das macht mir keine Freude. Es muss für uns beide stimmen. Wir können ja ein Spiel überlegen, bei dem Du schmieren kannst». Es gibt ja Fingerfarben, es gibt Ton zum Bearbeiten. Sie können auch draussen im Sandkasten oder Vorgarten spielen, da müssen Sie nicht putzen.

Wenn Sie immer den Grund angeben für Regeln, verhindern Sie, dass das Kind denkt, dass Sie als Mutter oder Vater eine Spielverderberin seien, dass Sie gegen alles sind, was Freude macht. Wenn Sie zeigen, dass Sie für die Lust sind, aber nicht unter allen Bedingungen, sind Sie nicht versagend. Damit muss sich das Kind nicht mit einem Spielverderber identifizieren.

Elisabeth Geiger

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