Landläufig herrscht die Meinung, die frühe Kindheit sei eine vorwiegend sorglose und glückliche Zeit, lediglich getrübt durch kurze, heftige Aufwallungen, wenn ein Wunsch nicht erfüllt wird. Wenn wir genau hinschauen, sehen wir etwas ganz anderes: Es spielt sich ein leidenschaftliches Drama ab, dessen Auswirkungen uns unserer ganzes Leben lang beschäftigen.
Alle Kinder entwickeln anfangs des dritten Lebensjahres heftige Liebesgefühle der Mutter gegenüber. Sie wünschen sich Befriedigungen von ihr, die sie nicht geben kann. Die Unerfüllbarkeit des Wunsches wollen die Kinder nicht erkennen, weil sie dann den Wunsch aufgeben müssten. Das ist unmöglich.
Liebesobjekt Mutter … und Vater
In ihrer Fantasie wird die Mutter mit allen Fähigkeiten ausgestattet, die sich das Kind wünscht. Deshalb werben sie im Alltag heftig um die Mutter, schmeicheln, scharwenzeln und sind immer wieder sehr enttäuscht, wenn das Gewünschte doch nicht eintritt. Sie stellen Überlegungen an, warum die Mutter wohl nicht macht, was sie doch so leicht könnte. Die Kinder legen sich Erklärungen zurecht und werden immer drängender und aggressiver. Schliesslich wenden sie sich enttäuscht von der Mutter ab und versuchen dasselbe beim Vater. Jetzt wird er heftig umworben. Nun soll er die Wünsche erfüllen, denn er als Papa kann es bestimmt! Die Liebesenttäuschung ist natürlich auch beim Vater unausweichlich.
Das Kind sucht auch da nach Erklärungen: Vielleicht liebt der Vater es zu wenig, ist er gleichgültig oder zieht er die Mutter, die Schwester, den Bruder oder den Hund vor? Fragen über Fragen – aber keine befriedigenden Antworten. Es leidet unter heftigstem Liebeskummer. Die Gefühle schwanken zwischen Verzweiflung und Enttäuschung auf der einen Seite und Wut und Rache auf der andern. Goethe beschrieb diese unerträgliche Gefühlsmischung eindrücklich in seinem «Werther». Es muss ein Ausweg gefunden werden. In einer aggressiven Aufwallung wird der viel bewunderte Vater beraubt. Das Kind nimmt sich das von ihm, was er ihm vorenthielt.
Das erstarkte Kind
Dass das Kind den Eltern in seiner Fantasie etwas raubt, ist nicht neu. Es empfindet alle Fähigkeiten, die es erworben hat, als geraubt von den Eltern: das Gehen, die Sprache, motorische Fertigkeiten. Neu ist die Leidenschaft, die Heftigkeit der Aggression: endlich ist das Langersehnte in seinen Besitz übergegangen, das Beste, was der Vater hatte. Jetzt hat sich die Gefühlslage geändert. Das Kind triumphiert über den Vater, lacht ihn aus. Es fühlt sich den Eltern überlegen, es trifft nun mit stolz erhobenem Kopf eigene Entscheidungen, es fühlt sich unabhängig, es weiss es besser als der Vater. Es ist dieselbe Tat, die Adam und Eva begannen, als sie den Apfel vom Baume der Erkenntnis raubten. Die Eltern spüren deutlich, dass das Kind reifer und ruhiger, gelassener und eigenständiger geworden ist. Es hängt weniger am Rockzipfel, es ist schulreif.
Diese ausgeglichene Überlegenheit und Unabhängigkeit kann bis zu einem halben Jahr andauern, dann folgt eine weitere Phase der Verunsicherung. Die alten Liebeswünsche sind ja nicht befriedigt, sie tauchen wieder auf. Nach der Heldentat ist es schwierig, sich wieder an jemanden zu wenden. Die Angst, es könnte herauskommen, wer die ungeheuerliche Tat begangen hat, macht es sehr schwer, sich jemandem liebend anzuvertrauen. Die Entlarvung hätte das sofortige Ende der Liebe zur Folge und dazu noch die Rache im Sinne von Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das muss um jeden Preis verhindert werden. Dieses Auf und Ab zwischen Selbständigsein, niemanden nötig haben und grösster Empfindlichkeit in Liebesdingen kennen wir auch als Erwachsene nur allzu gut. Die einstige Heldentat hat nicht nur die Folge, dass Liebesbeziehungen mit andern Menschen schwierig geworden sind, auch im Inneren kommt es zu einer folgenschweren Veränderung. Der geliebte Vater, der alles konnte und wusste und Sicherheit garantierte, ist entmachtet. Man lebt von nun an in ständiger Angst, ertappt und bestraft zu werden von der Aussenwelt. Anders als in der Bibel, wo die Vertreibung aus dem Paradies als Rache erfolgte, gilt es, der Rache zu entgehen. Die Kinder werden empfindlich, fühlen sich ständig von der Umgebung kritisiert, erzählen nicht mehr offen, entwickeln Heimlichkeiten vor den Erwachsenen. Adam und Eva verstecken sich hinter dem Feigenblatt.
Angsteinflössendes Gewissen
Es ist unerträglich, sich wie ein noch unerkannter Verbrecher zu fühlen. In dieser Zeit bildet sich das Gewissen. Es ist eine innere Instanz, die einem ständig kritisch auf die Finger schaut und an allem, was gemacht wird, etwas auszusetzen hat. Das Gewissen ist eine rein aggressive Instanz, es kritisiert nur – stirnrunzelnd und streng. Lob und Anerkennung kennt es nicht. Das Gewissen kann Angst, Scham und Schuldgefühle auslösen und einen mit Hohn und Spott überschütten.
Was als Befreiungsschlag begann, verwandelt sich ins Gegenteil: Eigentlich sollte die Aufrichtung einer mächtigen Instanz im eigenen Innern nur die Angst vor der Rache der Aussenwelt ausschalten. Das gelingt auch. Aber die Herrschaft des Gewissens ist weit strenger als diejenige der Umgebung. Die Eltern, die mächtige Instanz von früher, konnten auch loben, bewundern, strahlen und vor allem verzeihen. Zudem sahen sie auch nicht alles. Das Gewissen sieht alles, es behandelt auch Gedanken, als ob sie vollbrachte Taten wären und verurteilt unerbittlich.
Die Revolution, die mit dem Raub am Vater so heldenhaft begann, hat in die Knechtschaft unter die Herrschaft des Gewissens geführt. Es schaut einem immer über die Schultern und kritisiert. Man ist nie mehr ungestört und mit sich im Reinen. Diese Entwicklung findet bei jedem Menschen statt, sie ist die Ursache grossen menschlichen Unglücks. Die natürliche Neugierde und spontane Lernfreude der Kinder wird durch diesen Vorgang stark in Mitleidenschaft gezogen. Das Überlegenheitsgefühl den Eltern und überhaupt den Erwachsenen gegenüber führt zum Trugschluss, das Kind wisse und könne alles besser. Die Eltern leiden oft unter der verächtlichen Behandlung, die ihnen die Kinder angedeihen lassen.
Der Wunsch, sich neue Fähigkeiten anzueignen und mit ihnen zu glänzen, bleibt bestehen. Aber im Vergleich zu früher haben sich die Lernbedingungen geändert: Während das Kind vorher unermüdlich und fokussiert übte, zum Beispiel als es gehen oder sprechen lernte und den Erfolg ungetrübt geniessen konnte, hat es nun den Hohn und Spott des Gewissens zu bewältigen: Das Gewissen spottet über die ersten ungelenken Versuche z.B. beim Rechnen, höhnt, so gut wie die Nachbarin könne man es ja nicht etc. Bei jedem kleinsten Erfolg findet das Gewissen noch ein Haar in der Suppe oder noch schlimmer: Es droht, gerade der Erfolg werde allen enthüllen, dass es der Räuber sei. Kurz: es entmutigt unentwegt und ist schlicht zermürbend!
Eltern finden zu diesem Zeitpunkt oft: «Du kannst es doch, mach es doch einfach! Gib doch nicht so schnell auf.» Oft denkt die Umgebung, das Kind sei faul oder habe eben andere Interessen, dabei ist es ganz anders: Wenn es gar nicht ernsthaft versucht, etwas zu lernen, kann es sich sowohl die kritischen Kommentare des Gewissens ersparen als auch der Drohung entgehen, beim Vorzeigen der neu erworbenen Fähigkeit würde es als Täter entlarvt. Diesen inneren Zwiespalt wird niemand mehr los. Wir suchen Lösungen, um dem Druck des Gewissens auszuweichen. Es gibt bessere und schlechtere Strategien.
Den inneren Kampf des Kindes verstehen lernen
Um uns selbst und unseren Kindern zu helfen, eine möglichst gute innerpsychische Position einzunehmen, studieren wir die Kinderentwicklung. Wenn wir verstehen, welchen inneren Kampf das Kind gerade ausficht, können wir ihm dabei helfen, eine gute Lösung zu finden. Um diese Hilfestellung leisten zu können, müssen wir die Kinder und uns selbst genau beobachten, Merkwürdigkeiten aufspüren und uns dann überlegen, was sie bedeuten könnten.
Autorin: Elisabeth Geiger, nach der Theorie von J. Le Soldat 1994
Gerne können Sie im Experten-Forum Ihre Beobachtungen zu Merkwürdigkeiten beschreiben und Ihre Fragen an Elisabeth Geiger stellen.
Psychologische Beratung für familleSuisse-Mitglieder
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Liebeskummer + Wut vermischt
Spannender Text, bin aber nicht sicher, ob ich alles auf Anhhieb verstehe. Deshablb mein Nachhaken:
Verstehe ich das richtig: Liebeskummer und Wut vermischt ergibt dann diese heftigen Trotzanfälle?
Sind die unvermeidlich oder kann ich da im Vorfeld etwas machen?