Der Hormonschub zu Beginn der Pubertät verändert das Gehirn und damit das seelische Empfinden. Das libidinöse Lustempfinden und die aggressiven Triebregungen erstarken und überschwemmen das Ich. Das Ich hat die Aufgabe, Gewissen, Triebwünsche und die Anforderungen der Realität zu koordinieren. Die Realitätsprüfung und die Triebkontrolle sind seine Aufgabe. Ein sehr anspruchsvoller Job!
Nicht nur die Triebe verlangen heftig nach Befriedigung, auch das Gewissen, das vom aggressiven Trieb gespeist wird, drückt verstärkt auf das Ich. Sie könnten das Ich mit dem Uno-Generalsekretär vergleichen, der die Interessen der verschiedenen Länder unter einen Hut zu bringen versucht. Der Druck wird von allen Seiten so stark, es kann nicht immer standhalten. Einmal gerät es unter die Herrschaft der Triebe, dann wieder unter die Herrschaft des Gewissens. Der Dritte im Bund, die Realitätsprüfung, hat dabei einen schweren Stand: Unter der Herrschaft der Triebe scheint alles möglich, daraus resultiert eine Selbstüberschätzung. Hat das Gewissen die Oberhand, fühlt sich der Jugendliche unwert, unfähig, nicht liebenswert. Diese abwertende Sicht der eigenen Person kann zu Selbstmordgedanken führen. Dieses ewige Hin – und Herr, die ständigen Kämpfe zwischen den Trieben und dem Gewissen ermüden, die Jugendlichen hängen herum, schlafen lange, die Anforderungen der Realität wie Lernen, Aufräumen, im Haushalt mitarbeiten geraten ins Abseits.
Diejenigen, die spät in die Pubertät kommen, haben einen Vorteil. Ihr Ich hatte länger Zeit, Funktionen wie Spass am Lernen, Disziplin und Realitätsprüfung zu entwickeln. Es kann den Ansturm der Triebe und des Gewissens besser meistern. Auch diejenigen, die schon in der Primarschule mit Freude und Neugier lernten, begeistert Hobbies nachgingen und Verantwortung für den Haushalt oder Geschwister übernahmen, haben diesen Vorteil. Die Konsequenz in der frühen Erziehung zahlt sich jetzt aus!
Wie wirken Alkohol und andere Drogen auf dieses Kräftespiel ein?
In erster Linie betäuben sie das Ich. Realitätsprüfung und Selbstkontrolle sind deutlich herabgesetzt. Auch das Gewissen wird in Mitleidenschaft gezogen. Freud sagte einmal, «das Gewissen ist in Alkohol löslich». Am Diplomatentisch übernehmen die Triebe die Herrschaft. Nun können die Jungendlichen tun und lassen, was ihnen gerade in den Sinn kommt, sowohl in sexueller als auch in aggressiver Richtung. Der Einspruch des Gewissens ist nur schwach, auch die mahnende Stimme des Ichs, die Sprüche und Taten könnten böse Folgen in der Realität haben, werden cool in den Wind geschlagen.
Für die innere Bilanz, in der die Triebbefriedigungen zählen, ist das ein wunderbarer Zustand. Ich und Gewissen, die lustvolle triebhafte Befriedigungen immer einschränken, sind zum Schweigen gebracht, der Trieb feiert Triumphe. Das Danach kümmert nicht, weder die Folgen in der Realität noch die innerpsychischen Folgen. Wieder ernüchtert, erschrecken die Jugendlichen über sich selbst, das Gewissen ergiesst Schimpftiraden über sie und die Umwelt auch. Das Ich ist beschämt, sie fühlen sich als Versager. Der logische Ausweg aus diesem elenden Zustand: sie trinken wieder. Die Stimmen der Vernunft und des Gewissens sind wieder ausgeschaltet, sie fühlen sich wieder erhaben und grossartig und es ist alles erlaubt. Es ist ein Teufelskreis, der schwer zu durchbrechen ist, zumal der angerichtete Schaden mit jedem Mal grösser wird.
Was können Sie als Eltern von trinkenden oder Drogen konsumierenden Jugendlichen unternehmen?
Wenn wir wissen, dass Schimpfen und Drohen eher die Wirkung haben, dass die Jugendlichen wieder trinken, sollten wir einen anderen Weg suchen. Das Unbehagen, die Unsicherheit, die wir alle aus der Pubertät kennen, wird durch den übergrossen Druck des Gewissens verursacht. Es wird durch den Triebzuwachs ungeheuer streng. Jugendliche sind oft übermässig moralisch, unnachsichtig und intolerant. Wir sollten ihnen helfen, dem Druck des Gewissens standzuhalten und ihn zu mässigen. Das geht nur über die Vernunft, eine Funktion des Ichs. Wenn wir uns ihnen verständnisvoll zuwenden und ihnen liebevoll erklären, welche Kämpfe in ihnen stattfinden und ihr Unbehagen verursachen, haben wir eine gewisse Chance, ihre Frustrationstoleranz gegenüber den Gefühlen von Schuld, Scham und Versagen zu erhöhen. Sie können ihnen erklären, welcher Veränderungsprozess in ihrem Hirn stattfindet und sie dazu anregen, sich selbst gut zu beobachten. Wer hat gerade die Oberhand am Diplomatentisch, die Triebe oder das Gewissen? Oder die Vernunft? Das Beobachten stärkt das Ich. Das Ich soll einen Hochsitz einnehmen und den Kampf zwischen Trieb, Gewissen und Realitätsanforderungen beobachten. Das erhöht die Einfühlung in sich selbst und vermindert die heftige Verurteilung durch das Gewissen.
Diskutieren Sie in der Familie offen über die Veränderungen und Stimmungslagen in der Pubertät – diese Veränderung ist normal. Erzählen Sie ihren Kindern, was Sie gemacht und nicht gemacht haben in dieser Zeit, wie Sie sich fühlten und nicht nur die Geschichten, bei denen Sie als strahlender Held glänzten, sondern auch über Ihre Unsicherheiten, Zweifel und das Gefühlschaos. Dadurch kommen Sie sich näher und der ausserordentliche Zustand wird relativiert: alle erleben ihn. Lassen Sie sich nicht durch abweisende Reaktionen der Jugendlichen davon abhalten, das Gespräch um das Thema «Veränderungen in der Pubertät» zu führen. Türenknallen und «Ihr versteht gar nichts» müssen Sie zwar hinnehmen, sich dadurch aber nicht die Vernunft verbieten lassen. Sie können sagen, so war ich auch, man empfindet alles als Kritik, nicht als Hilfe und Anteilnahme.
Auch Sie als Eltern können Neugier entwickeln, beispielsweise anfangen, Freud zu lesen und die Erkenntnisse daraus beim gemeinsamen Essen mitteilen. Manchmal fällt es Aussenstehenden wie Grosseltern oder Paten viel leichter, in stürmischen Zeiten Zugang zu ihrem Sohn oder ihrer Tochter zu bekommen.
Schrecken Sie nicht davor zurück, den Jugendlichen eine Psychotherapie oder Analyse anzubieten. In dieser Zeit des Umbruchs können bessere Lösungen viel leichter gefunden und etabliert werden als zehn Jahre später.
Literatur
Als Einstieg zu Freud, der auch ein exzellenter Schriftsteller ist, empfehle ich:
- Das Ich und das Es. Zur Psychopathologie des Alltagslebens.
- Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten.
- Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.
- Hilfreich als Diskussionsgrundlage und Selbstbeobachtung ist auch der Artikel von Julia Koch «Nebel hinter der Stirn». Der Spiegel «Wissen», Nr.2 2010 «Die Pubertät», S. 20 – 24. Er schildert die Veränderungen des Gehirns während der Pubertät.
Elisabeth Geiger 2010
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