'Das ist nicht deine Schuld' (Bild © Martina Berg)

Wenn der eigene Bruder stirbt

Für Eltern gibt es nichts Schlimmeres, nichts Traumatischeres als das eigene Kind zu Grabe tragen zu müssen. Aber der Tod von Bruder oder Schwester ist auch für das hinterbliebene Kind eine einschneidende Erfahrung, die alles verändert.

Den Verlust überhaupt zu begreifen - zu verstehen, dass der Bruder oder die Schwester tatsächlich nie mehr durch die Tür kommen wird, ist besonders für kleine Kinder sehr hart und braucht viel Zeit. Oft konzentriert sich die Aufmerksamkeit in der Familie auf den Verstorbenen. Unter dem Schock des eigenen Verlustes vergessen die trauernden Eltern die Lebenden. Es ist wichtig und zugleich unglaublich schwer, das richtige Mass zwischen Trauerbewältigung und Erinnerung einerseits und dem Nach-Vorne-Sehen andererseits zu finden.

Kein Tag, ohne an den Bruder zu denken

Richtig verstanden hat Philipp es erst zwei Jahre später. So lange brauchte er, um zu begreifen, dass sein älterer Bruder Felix tot ist. "Ich war damals sechs, er zehn. Er ist im Ferienlager bei einem Unfall gestorben", erzählt der heute 17-Jährige aus Potsdam. Sehr eng sei ihr Verhältnis gewesen. Sie hätten nachts immer noch unter der Bettdecke gelegen und miteinander gesprochen. Bis heute vergehe kein Tag, an dem er nicht an seinen Bruder denkt, sagt Philipp. Der ältere Bruder war sein Idol, sein Vorbild.

Plötzlich ist alles anders

Wenn ein Geschwisterkind stirbt, gerät das ganze Familiengefüge auseinander. Nicht nur die Eltern müssen ihre Trauer verkraften, auch die verbleibenden Geschwister müssen ihr Leben nach dem Schicksalsschlag neu ordnen. In einigen Fällen sind sie plötzlich das einzige Kind in der Familie. Und auch die Beziehung zwischen Kind und Eltern wandelt sich. "Eltern reagieren oft sehr ambivalent. Einerseits sind sie zerrissen vor Trauer, andererseits legen sie sehr stark den Fokus auf das noch lebende Kind und sind panisch, dass ihm auch etwas zustossen könnte", erklärt Thomas Multhaup, Trauerbegleiter in München. Für die Kinder kann solche Überaufmerksamkeit zur Belastung werden.

"Das ist nicht deine Schuld"

Auf welche Art Kinder trauern, kann sehr unterschiedlich sein: Während einige zumindest nach aussen schnell wieder zur Normalität übergehen, entwickeln andere schwere Schuldgefühle. "Ist der Bruder oder die Schwester gestorben, weil ich immer so böse zu ihnen war?" "Hätte ich mein Geschwisterkind vor Krankheit oder Tod schützen können?", das sind Fragen, die viele Kinder nach dem Todesfall umtreiben, egal wie absurd sie objektiv auch sein mögen. "Eltern müssen in so einem Fall deutlich machen 'Das ist nicht deine Schuld'", fordert Helga Lauchart, Psychotherapeutin in Tübingen, wissend, dass die Eltern oft schon mit ihren eigenen Schuldgefühlen überfordert sind. Oft könne es helfen, symbolisch etwas für das verstorbene Kind zu tun, etwa ein Bild zu malen, einen Brief zu schreiben oder gemeinsam für den Verstorbenen zu singen.

Todessehnsucht: "Ich dachte, dann könnten wir wieder spielen"

Gefährlich werde es, wenn sich in der Familie alles nur noch um das verstorbene Kind dreht. "Lebende Kinder bekommen dann das Gefühl 'Und ich?'", erklärt Lauchart. Sie könnten den Wunsch entwickeln, ebenfalls sterben zu wollen. "Sie denken, dass ihre Mutter sie vielleicht lieber hat, wenn sie tot sind", warnt die Therapeutin. So ähnlich erging es Philipp: Auch er wollte ein Jahr nach dem Tod seines Bruders nicht mehr weiterleben. "Ich dachte, dann wäre ich bei ihm und wir könnten wieder spielen", schildert er seine damalige Sehnsucht. Geholfen hat ihm schliesslich eine Psychologin, bei der er in Betreuung war.

Eltern erkennen oft nicht, ob und wie gut ihr Kind den Tod von Bruder oder Schwester verkraftet hat. Häufig zeigen sich die Knackpunkte erst Jahre später. "Als Faustregel ist es gut, wenn man auf all die Sachen achtet, die vor dem Tod noch nicht da waren", erklärt Lauchart. Starke Änderungen im Verhalten könnten erste Warnzeichen dafür sein, dass das Kind professionelle psychologische Hilfe braucht. Dasselbe gelte, wenn sich das Kind plötzlich zurückzieht, aggressiv wird und den Spass an seinen Hobbys und Freunden verliert. Hier sollten Eltern aufhorchen.

Jeder trauert auf seine Weise

Auch wenn die Präsenz des toten Kindes nicht zu gross werden darf: Es sollte einen festen Platz in der Familie inne haben und ihn auch behalten. "Rituale haben einen tröstenden Charakter", sagt Trauerbegleiter Multhaup. Der Gang zum Grab sowie die gemeinsamen Erinnerungen sind für den Trauerprozess deshalb sehr wichtig. So wird es auch in Philipps Familie gehandhabt. Jedes Jahr am Geburtstag fahren alle zusammen an Felix Lieblingsort. Zum Grab geht Philipp hingegen selten: "Ich will ihn lieber lebendig in Erinnerung behalten." Die Standard-Trauerarbeit, die jedem hilft, gibt es nicht.

Ehrlichkeit nach innen und aussen

Kinder müssen nach dem Verlust nicht nur das emotionale Chaos innerhalb der Familie bewältigen, sondern werden schon bald mit den Reaktionen der Aussenwelt konfrontiert. Spätestens in der Schule oder im Kindergarten ist es soweit: "Sinnvoll ist es, wenn die Eltern vorab mit Erziehern oder Lehrern über das Geschehen reden. Gleichzeitig können sie auch um ein Feedback bitten, wenn ihnen etwas am Kind auffallen sollte", rät Multhaup. Was das Kind aber erzählen möchte und mit welchen Worten, überlassen Eltern am besten ihm selbst. "Wenn man festlegt, was gesagt werden darf und was nicht, bekommt das etwas Verkrampftes", erklärt Helga Lauchart. Auf keinen Fall dürfe das Kind zum Lügen gedrängt werden, meint auch Multhaup.

Es sei wichtig, im Umgang mit dem Tod ehrlich zu bleiben. Gerade wenn das Kind beim Tod des anderen noch sehr klein war, müssen Eltern die Dinge später so benennen, wie sie sind. "Es hilft nichts, wenn sie Erklärungen abgeben wie 'Dein Bruder schläft für immer' oder 'Gott hat ihn zu sich geholt'", sagt Multhaup. Kinder wollten verstehen, was passiert ist, und solche Erklärungen allein helfen ihnen dabei nicht.

"Ich habe noch einen Bruder"

Überhaupt kann über den Verlust eigentlich nichts hinwegtrösten. Mit der Zeit lässt der akute Schmerz, die alles zerfressende Trauer zwar nach, doch es bleibt für immer eine Lücke. "Ich ärgere mich heute noch darüber, dass ich mich damals nur flüchtig von Felix verabschiedet habe", sagt Philipp. Ein Gefühl, das er mit vielen Angehörigen teilt, die unerwartet, etwa durch einen Unfall, ein Familienmitglied verloren haben. Als Einzelkind sieht Philipp sich aber bis heute nicht: "Wenn Leute mich fragen, sage ich 'Ich habe noch einen Bruder'."

Life with - wenn ein Geschwister stirbt

Der nächste Life with-Workshop findet Samstag 05. April 2014 in Zürich statt. Das Thema ist noch offen.

Allgemeines:
Der Workshop findet auf jeden Fall statt, auch wenn nur ganz wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer feststehen. Du solltest zwischen 14 und 30 Jahren sein. Ansonsten wären wir froh, wenn Du mit uns Kontakt aufnehmen würdest via Kontaktformular. http://bit.ly/17rKTQp

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