Vor zehn Jahren, um die Weihnachtszeit, kann ein alter Mann ins Tierheim und sah mich. Mich, einen nicht besonders schönen, braunen, fusseligen Hund. Na ja, da habe ich schnell mit dem Schwanz gewedelt, weil ich dachte: das ist deine Chance! Und er hat mich mitgenommen.
Damals feierten wir zum ersten Mal zusammen Weihnachten und ich bekam alle Knochen vom Weihnachtsbraten, das weiss ich noch. Später machten wir einen Spaziergang an den Alsterbrücken entlang, wo ich Schiffe anbellte. Der alte Herr half mir bellen. So machten wir es nun jedes Weihnachten: wir assen sehr viel und gingen spazieren und bellten die Schiffe an.
Aber kurz vor dem elften Weihnachten meines Lebens starb der alte Herr und so lief ich alleine zu den Alsterbrücken. An diesem elften Weihnachten war es stürmisch und die Schiffe waren alle hinter einer weissen Schneesturmwand verschwunden. Da dachte ich: jetzt erfriere ich wohl hier draussen.
Ausser mir war nur noch ein einziger Mensch unterwegs. Ich sah ihn mit dem Sturm und mehreren grossen Einkaufstüten kämpfen und dann kletterte er eine Treppe zur Strasse hinunter. Eine Treppe, die man fast nicht sah. Ich kletterte ihm nach. Unten neben der Treppe gab es eine Tür. Der Mann öffnete sie. Das ist deine Chance, dachte ich. Und ich machte einen Satz, um dem Mann ins warme Licht hinter der Tür zu folgen. Einen Moment lang standen wir beide nur da und blinzelten die Flocken aus unseren Augen. Der Mann war sehr gut angezogen. Seine Schuhe glänzten schwarz unter dem Belag aus Schnee. „Fröhliche Weihnachten“, sagte jemand in einer dicken Strickjacke und einer Schürze. „Fünfzig Cent? Männer da drüben.“
Jetzt sah ich, wo wir waren. Es war eine öffentliche Toilette. Die Frau in der Schürze war die Klofrau. Sie trug ihr Haar zu einem Knoten zusammengedreht und sass neben einem Tisch mit einem Teller, auf dem ein einziges Geldstück lag.
„Kann ich einen Moment bleiben?“, fragte der Mann. „Bis das Schlimmste draussen vorbei ist.“
„Früher in Russland“, sagte die Klofrau, „da hatten wir oft solche Stürme. Es war wunderbar, drinnen zu sitzen und den Stürmen zuzusehen, aber man musste Papier mit Mehl beschmieren und in die Fensterritzen kleben, damit sie dicht waren…“
„Ich verstehe sie nicht“, sagte der Mann. „Tut mir leid“.
Da begriff ich, dass die beiden verschiedene Sprachen sprachen. Das ist so bei den Menschen. Wenn der eine von hier kommt und der anderer von dort, verstehen sie sich nicht mehr. Ich verstand sie beide. „Und wo kommst Du her?“, fragte mich die Frau und streichelte mir den Kopf. Ich sagte:“auch von draussen, ich war ganz allein.“ Nur verstand sie mich genauso wenig, weil ich ein Hund bin.
Der Sturm wurde immer schlimmer, er toste und tobte und warf Schnee gegen die halb durchsichtige Tür. Doch hier drin hatten wir es warm. Auf dem Tisch, neben dem Teller mit der einen Münze, stand sogar ein ganz kleiner Weihnachtsbaum. Die Frau hatte einen blauen Plastikstern auf seine Spitze gesteckt. Schliesslich seufzet der Mann, setzte sich auf eine Kiste und griff in eine der Tüten.
„Ich habe Baumschmuck gekauft“, sagte er. „Meine Freundin und ich, wir hatten eine etwas schwierige Zeit … ich dachte, jetzt bringe ich ihr all diese Sachen mit und schmücke den Baum für sie… aber nun komme ich zu spät…sicher ist sie jetzt wieder sauer.“ Er klemmte einen Glasvogel mit roten Federn an den kleinen Weihnachtsbaum. „Vielleicht hätte sie den sowieso viel zu bunt gefunden“, sagte er. „Ja, ich glaube, das hätte sie.“
Er hängte noch eine glitzerbestäubte Eisenbahn und einen Teddy auf und die Klofrau klatschte in die Hände.
Da ging die Tür auf und noch jemand wehte herein. Es war eine junge Frau mit einem Paket im Arm, das in viele Decken gewickelt war.
„Entschuldigung“, sagte die junge Frau, „könnten wir hier warten, bis der Sturm vorüber ist?“
„Ich verstehe sie nicht“, sagte die Klofrau, „aber sie können gerne hier warten, bis der Sturm vorüber ist.“
Der Mann lächelte die junge Frau an, aber er verstand sie wohl auch nicht, weil sie wieder eine andere Sprache sprach. Sie war hübsch, mit langem schwarzem Haar und grossen dunklen Augen, und als sie das Paket auswickelte, hatte es auch schwarzes Haar, aber kurzes. Es war ein Baby. Die junge Frau setzte sich auf eine andere Kiste. Ich sah zu, wie das Baby seine kleinen Fäuste auf- und zumachte, als wollte es etwas nach etwas greifen – vielleicht nach dem Gefühl von Weihnachten.
„Heute kommen wir wohl nicht mehr zu unserer Wohnung zurück“, sagte die junge Frau, die keiner verstand, „aber da sind wir sowieso ganz alleine, der Kleine und ich. Hier ist es viel schöner, mit dem Baum und den Leuten.“
Der Mann hängte weiter Baumschmuck auf, immer und immer mehr, bis seine Tüten leer waren und der Baum übervoll. Schliesslich griff der Mann in die letzte Tüte und holte ein Päckchen heraus.
„Wenn sie möchten, ist das für sie“, sagte er zu der jungen Frau, ein bisschen verlegen. „Es war für meine Freundin, aber ich bin mir sicher, dass sie es nicht gemocht hätte.“ Die junge Frau lächelte und die ältere Frau fing an ein Weihnachtslied zu singen, dessen Worte keiner ausser mir begriff.
Es war das beste elfte Weihnachten, das man als Hung haben kann. Ich legte eine Pfote auf das Knie der jungen Frau und einen auf das Knie des Mannes und dachte: Das ist deine Chance! Und ich sagte: „Kann ich dann bei euch wohnen? Später so?“ Sie lachten und verstanden mich nicht, nur das Baby vielleicht. Es guckte so.
Quelle: Steinbrede, D. 24 weihnachtliche Geschichten. Das elfte Weihnachten. (2013). Ebner & Spiegel Ulm.
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