Ab ins Bett!
Gute-Nacht-Geschichten liebt jedes Kind, ob gross oder klein. Nach einem Gute-Nacht-Abenteuer mit Feen, Zauberer oder Tieren fallen die Kinderaugen fast von allein zu. Wir stellen Ihnen eine Gute-Nacht-Geschichten als Einschlafbegleitung Ihrer Sprösslinge vor.
An einem strahlenden Maitag im kleinen Ort Moosbach war der berühmte Zauberer Appelmus der III. mit seiner Weisheit am Ende. Unglücklich saß er am Frühstückstisch und beobachtete seinen Sohn Zeno, der verträumt mit einem Gummi-Zauberstab Löcher in ein Brötchen bohrte. "So lernt er es nie", sagte Appelmus. „Ach was“, antwortete seine Frau Alchemilla und goss ihm eine Tasse Kaffee ein. „Er braucht nur noch ein bisschen Zeit.“ Seit Monaten versuchte Appelmus, dem kleinen Zeno das Zaubern beizubringen. Doch es klappte einfach nicht! Zenos Schwestern Jola und Mia hatten sich schon im Babybett ganz allein den Schnuller in den Mund gezaubert. Als Sechsjährige gewannen sie in der Wüste Sahara den ersten Preis im Wetterhexen mit einem Regen-Rap. Und Zeno? Statt magische Tränke zu kochen oder Kieselsteine in Gold zu verwandeln, spielte er lieber draußen auf der Straße. „Er passt nie richtig auf“, jammerte Appelmus und zauberte ganz in Gedanken Salz statt Zucker in seinen Kaffee.
„Du musst ihm eben mal etwas Lustiges beibringen“, schlug Alchemilla vor. Appelmus nahm einen großen Schluck von dem Salzkaffee. Prustend spuckte er gleich darauf alles wieder aus. „Salpeter und Schierling!“, rief er. „Das schmeckt ja wie gequirltes Drachenpipi!“ Plötzlich war Zeno hellwach. „Papa, du hast geflucht!“, stellte er fest. Beschämt senkte Appelmus den Kopf. Da sah man es wieder: Zauberei war eine ernsthafte Angelegenheit, damit machte man keine Scherze. Sonst passierten schlimme Dinge! Andererseits, vielleicht hatte seine Frau ja recht …
Kurz entschlossen nahm Appelmus Zeno das durchlöcherte Brötchen aus der Hand. „Hör gut zu!“, mahnte er. Schwungvoll malte er mit seinem Zauberstab ein paar Kringel in die Luft, dazu verkündete er: „Abrakadabra – hokus – drakus.“ Appelmus der III. war nicht umsonst weltberühmt. Schon war das Brötchen verschwunden. Stattdessen flog ein kugelrunder, schwarz-weiß gepunkteter Drache durchs Zimmer! Alchemilla betrachtete besorgt ihre Möbel. „Sehr hübsch“, sagte sie. „Aber muss er unbedingt durch unser Wohnzimmer fliegen?“ Der Drache fauchte beleidigt und ruderte schwerfällig am Geschirrschrank vorbei. Für sein Gewicht hatte er ziemlich mickrige Flügel, jedoch einen tollen langen Zackenschwanz. Leider verhedderte er sich damit bald in der Gardine. Die zog er wie eine Braut ihre Schleppe hinter sich her und fegte damit alles, was ihm in den Weg kam, zu Boden: Familienfotos, Kerzenleuchter, die Stehlampe …
Zenos Schwestern quietschten vor Lachen, als bei der nächsten Runde durchs Zimmer irgendwie ein Kranz aus rosa Trockenblumen auf seinen borstigen Drachenohren landete. „Guckt mal, wie süß, er will heiraten“, rief Jola. Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Der gepunktete Drache bekam furchtbar schlechte Laune. Gelbe Schwefelwölkchen quollen aus seinen Nüstern. Aufgebracht peitschte er seinen Zackenschwanz hin und her, um die lästige Gardine loszuwerden. Schneller und schneller kreiste er wie ein verrückter Riesenbrummer durchs Zimmer – bis er plötzlich krachend zwischen Marmelade und Müsli auf dem Esstisch landete! Alle sprangen von ihren Stühlen auf und brachten sich in Sicherheit. Nur Zeno war begeistert. „Super, Papa! Darf ich den behalten?“, fragte er. „Auf keinen Fall!“, stöhnte seine Mama. Rasch verwandelte Appelmus das Ungeheuer wieder in das harmlose Brötchen zurück, dabei beseitigte er auch gleich die Verwüstung im Zimmer. „So, jetzt bist du an der Reihe“, sagte er zu Zeno, als sie wieder Platz genommen hatten. „Zaubere dir selbst einen Drachen!“ Und dann drückte er ihm tatsächlich seinen kostbaren silbernen Zauberstab in die Hand. „Nein, nicht!“, riefen Jola und Mia gleichzeitig. Das fand Zeno nun richtig gemein von seinen Schwestern. Sie hielten ihn wohl noch für ein Baby! Entschlossen kniff Zeno die Augen zu und ratterte, ohne Luft zu holen, den Zauberspruch herunter: „Abraka-dabra-lokus-kaktus!“
Einen Moment lang blieb es unheimlich ruhig im Raum. „Das ist ja nicht zu glauben“, ächzte Appelmus der III. schließlich entsetzt. Zeno lief ein Schauer den Rücken hinunter. Hilfe, was war da schiefgegangen? Hatte er etwa ein grässliches Monster hergezaubert, einen wahnsinnig blutdürstigen Mörderdrachen mit fünf Köpfen und rasiermesserscharfen Zähnen? Ganz langsam öffnete Zeno die Augen. Dann sah er die Katastrophe: Genau vor ihm – da lag doch tatsächlich – einfach nur das blöde Brötchen! Nichts war passiert. Er hatte den Spruch falsch aufgesagt.
Alchemilla strich Zeno über den Kopf. „Ist nicht so schlimm“, tröstete sie ihn. Doch Zeno war schrecklich enttäuscht. Und wütend. Auf sich selbst, auf seine Schwestern, die immer alles besser konnten als er, ja sogar auf seinen Papa. Er pfefferte den silbernen Zauberstab zu Boden und rannte aus dem Zimmer. „Halt – hierbleiben – unerhört!“, rief Appelmus und schüttelte verwirrt den Kopf. Dann kroch er auf allen vieren unter den Tisch, um nach seinem magischen Werkzeug zu suchen. „Sollen wir Zeno zurückholen?“, fragten Jola und Mia eifrig. „Wir könnten ihn auch ein bisschen in Stein verwandeln.“
Für diesen Morgen hatte Alchemilla genug von den Zauberkünsten ihrer Familie. „Nix da, um Zeno kümmere ich mich“, sagte sie. „Ihr zwei könnt die Kröten und Salamander füttern.“ Maulend schlurften Jola und Mia in den Garten. Auch Appelmus krabbelte unter dem Tisch hervor und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Alchemilla nahm ihre magische Kristallkugel in die Hand. Behutsam rieb sie mit dem Ärmel darüber, bis darin ein Bild erschien: Es war Zeno, der mit Muffelmiene und ohne Helm auf seinem kleinen Fahrrad zum Bäcker um die Ecke fuhr. „Mein armer Schatz“, sagte Alchemilla. „Du schaffst das schon!“ Sie murmelte ein paar geheimnisvolle Worte. Ein sanfter Wind strich über die Kristallkugel. Das Bild von Zeno löste sich auf. Lächelnd schnipste Alchemilla mit den Fingern, und alles, was noch auf dem Frühstückstisch stand, flog von selbst in die Küche.
Zeno strampelte währenddessen den Bürgersteig entlang und grübelte über seinen missglückten Drachenzauber nach. Deshalb bemerkte er auch Polizeimeister Weishuhn nicht, der für eine kurze Kaffeepause mit dem Einsatzwagen vor der Bäckerei parkte. „Der Anfang vom Zauberspruch ist babyleicht!“, murmelte Zeno, noch fünf Meter vom Wagen entfernt. „Aber welches Wort kam zum Schluss?“ Als Polizeimeister Weishuhn den kleinen Jungen ohne Helm heranflitzen sah, stieg er sofort aus. In diesem Moment fielen Zeno endlich die richtigen Worte ein. „Abrakadabra – hokus – gallus!“, rief er glücklich – und prallte in vollem Tempo gegen den Polizisten. Der Stoß fegte Zeno vom Sattel, sodass er in eine Hecke flog. Etwas zerkratzt rappelte er sich hoch und hob sein Fahrrad auf. Polizeimeister Weishuhn hatte es viel schlimmer getroffen. Obwohl man nicht genau sagen konnte, was ihn getroffen hatte. Denn Polizeimeister Weishuhn war nicht mehr da. Nur noch sein Name, sozusagen. Auf dem Bürgersteig saß ein niedliches Küken! Zeno zwinkerte erstaunt. Er guckte sich um, suchte die Straße ab und schaute sogar in den Polizeiwagen. Nichts, nur das Küken. Da begriff Zeno: Zum allerersten Mal hatte er tatsächlich jemanden verzaubert, sogar ohne Zauberstab. Es war zwar kein Drache geworden, aber immerhin!
Vor lauter Freude legte Zeno auf dem Bürgersteig einen richtigen Siegestanz hin. „Ich bin Zauberer Zeno der Große!“, rief er dabei. Das Küken schlug verschreckt mit den Flügeln. Drei große Schuljungen mit Skateboards unter dem Arm polterten aus der Bäckerei. „He, du!“, sagte einer von ihnen. „Lass das arme Tier in Ruhe!“ Zeno hörte auf zu tanzen. „Das ist kein Tier. Das ist ein verzauberter Polizist“, erklärte er stolz. Die Schuljungen zeigten ihm grinsend einen Vogel und wollten weitergehen. Zeno runzelte die Stirn. Ein echter Zauberer konnte sich das nicht gefallen lassen. „Abrakadabra – hokus – gallus“, sagte er mit fester Stimme. Dann riss er die Augen auf. Unglaublich: Auch die Jungs waren verschwunden. An ihrer Stelle saßen drei weitere Küken auf dem Bürgersteig! „Ätschibätsch!“, sagte Zeno zufrieden. Langsam begann ihm die Sache einen Riesenspaß zu machen. Als kurz danach die Bäckereiverkäuferin erschien, um nachzusehen, warum ein Polizeiauto vor ihrem Laden parkte, verzauberte er auch sie.
Nun war schon eine ganze Kükenschar auf dem Bürgersteig versammelt. Die Vögel rannten fröhlich durcheinander und bettelten jeden, der vorbeikam, um Futter an: den superschnellen Eilboten vom Expressversand, Rechtsanwalt Dr. Schotter mit Aktentasche, den Klempner, der in der Bäckerei etwas reparieren sollte, zwei schicke gebräunte Damen mit Mops aus dem Sonnenstudio gegenüber, die Müllmänner, die dienstags immer im Viertel die Wertstofftonnen leerten, den Pizzeriabesitzer Paolo Rigatoni mitsamt Gemüsekisten und Kellnern und alle Mitglieder vom Fitnesscenter Muskelmax. Und weil es so lustig war, verzauberte Zeno jeden Einzelnen von ihnen, sogar den Mops! Dann wuchs ihm die Sache ein bisschen über den Kopf. Denn inzwischen standen so viele Fahrzeuge vor der Bäckerei, dass sie den Verkehr behinderten. Vor allem das große Müllauto war im Weg. Immer mehr Wagen stauten sich dahinter in der Straße. Die Leute hupten wie verrückt und wunderten sich, was los war.
„Warum tut die Polizei denn nichts? Sie ist doch schon vor Ort“, schimpfte eine junge Frau mit zwei Kindern auf dem Rücksitz. Ärgerlich stieg sie aus ihrem roten Cabrio. Aber das Polizeiauto am Straßenrand war leer, nur aus dem Funkgerät quäkte eine Stimme. Jetzt entdeckten die Kinder die Küken. „Mama, guck mal, die süßen Küken! „, riefen sie aufgeregt. Zeno trat schnell ein paar Schritte zurück. Die Frau nahm ihr Handy aus der Tasche. „Die müssen sofort eingefangen werden“, beschloss sie. „Ich rufe die Feuerwehr und das Tierheim an.“ Zeno schaute schuldbewusst auf die Vögel, die um seine Füße wuselten. Ein Polizist im Tierheim, also, das ging nun wirklich nicht. Er musste schnellstens alle wieder zurückverwandeln!
Plötzlich wurde Zeno heiß und kalt zugleich. „Ich weiß den Spruch ja gar nicht!“, murmelte er erschrocken. Denn den hatte Appelmus ihm nicht gesagt. Zum Glück schaute Alchemilla gerade in ihre magische Kristallkugel und entdeckte den Schlamassel. Im Handumdrehen half sie Zeno aus der Patsche: Sie zauberte ihn einfach direkt nach Hause, anschließend verwandelte sie die Küken wieder in Menschen. Allerdings hatte sie es dabei so eilig, dass Rechtsanwalt Dr. Schotter hinterher statt der Akten den Mops im Arm trug. Aber das war egal, denn komischerweise konnte sich keiner mehr erinnern, was eigentlich an diesem Vormittag genau vor der Bäckerei passiert war, nicht einmal Polizeimeister Weishuhn. Und weil Alchemilla auch sonst nichts zu dem Missgeschick sagte, war Zeno am Ende auf seinen ersten Zauber ziemlich stolz.
Appelmus der III. schüttelte nur den Kopf, als Zeno ihm abends in der Zauberküche die haarsträubende Geschichte erzählte. Zenos Schwestern Jola und Mia rümpften oberschlau die Nasen. „Puh, was hast du denn bloß wieder für einen falschen Spruch gesagt?“, nörgelten sie. Diesmal musste Zeno nur ganz kurz überlegen. Unschuldig schaute er seine großen Schwestern an. „Abrakadabra – hokus – gallus!“, sagte er. Und das hatten sie nun davon!
Text von Corinna Gieseler, aus Ich kann das schon! Geschichten für kleine Abenteurer, Ausprobierer und Entdecker, Dressler Verlag GmbH, www.ellermann.de
Wir wünschen eine gute Nacht!
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