dr. Silke Oggier-med. Leiterin santé24
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Kann mein Göttibub die Abnehmspritze bekommen?

«Mein Göttibub Andrea ist 12 Jahre alt, 1.50 Meter gross und wiegt schon fast 70 Kilogramm. Er schämt sich sehr wegen seinem Körper und wird zunehmend aggressiv, weil er auch in der Schule sehr gehänselt wird. Seine Eltern haben schon verschiedene Diäten ausprobiert und versucht, mit ihm Sport zu machen, aber alles ohne Erfolg. Könnte man ihm nicht mit der neuen Abnehmspritze helfen, er tut mir so leid und ist eigentlich so ein feiner und sensibler Bub» schildert Tamara Egger ihre Sorgen am santé24-Telefon. Nach Rücksprache mit dem Ärzteteam trägt die santé24-Gesundheitsberaterin Frau Egger für eine Beratung bei einer Ärztin der santé24-Lifestyle(Change)Sprechstunde ein.


Wie viele Kinder in der Schweiz sind übergewichtig? 

Andrea hat mit seiner Grösse und seinem Gewicht einen BMI (Body Mass Index) von über 30. Er gilt damit nicht mehr als übergewichtig, sondern leidet bereits an Adipositas. In der Schweiz sind ca. 15 Prozent der Schulkinder übergewichtig bis adipös. Studien zeigen, dass 70 Prozent der Kinder mit Übergewicht oder Adipositas mit 30 Jahren immer noch übergewichtig oder adipös sind, sich das Problem also bei den meisten nicht einfach «auswächst». Das Übergewicht ist nicht nur ein Hauptrisikofaktor für körperliche Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und später Herzinfarkt und Hirnschlag, sondern auch für psychische Begleiterkrankungen und führt insgesamt zu einer starken Beeinträchtigung der Lebensqualität.

Was machen die Abnehmspritzen genau?

Die sogenannten «Abnehmspritzen» sind ursprünglich für die Behandlung von Diabetes erfunden worden. Der Inhaltsstoff ist einem menschlichen Hormon aus dem Verdauungstrakt nachgebaut. Dieses wirkt als physiologischer Regulator von Appetit und Nahrungsaufnahme. Es reguliert den Appetit durch eine Steigerung des Völle- und Sättigungsgefühls, eine Reduzierung des (Heiss-)Hungergefühls und des Wunsches nach Essensaufnahme und führt so zu einer geringeren Nahrungsaufnahme. Die Andockstellen des Hormons kommen ausserdem in verschiedenen Hirnregionen vor, die an der Appetitregulation beteiligt sind und das innere Belohnungssystem beeinflussen. Den Energieverbrauch erhöht das Medikament jedoch nicht.

Können auch Kinder mit der Abnehmspritze behandelt werden?

Momentan sind in der Schweiz zwei Präparate für Jugendliche ab 12 Jahren zugelassen, wenn ihr Gewicht bzw. ihr BMI die Kriterien für Adipositas erfüllt. Wie auch bei Erwachsenen dürfen die neuen Abnehmmedikamente nur im Rahmen eines ganzheitlichen interdisziplinären Betreuungsangebots von spezialisierten Adipositaszentren verschrieben werden. Neben der medikamentösen Behandlung gehören Ernährungsberatung, Bewegungs-Coaching und psychologische Betreuung zum obligatorischen Behandlungskonzept. Ausserdem muss nach einer drei- bis siebenmonatigen Behandlung eine Reduktion des BMI um vier bis fünf Prozent nachgewiesen werden, um die medikamentöse Therapie weiterführen zu dürfen. Für Andrea würde das einer Gewichtsabnahme von ca. sieben Kilogramm, also knapp zehn Prozent seines Körpergewichts entsprechen.

Ist es sinnvoll, Jugendliche mit der Abnehmspritze zu behandeln?

Für die körperliche und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist es im Hinblick auf ihr gesamtes weiteres Leben unumstritten sinnvoll, sie beim Abnehmen zu unterstützen. Bei starkem Übergewicht gelingt dies nur sehr schwierig alleine über Essensanpassungen und Bewegungsoptimierung. Nimmt der BMI trotz zweijährigem Ernährungs- und Bewegungs-Coaching noch weiter zu, ist unter bestimmten Gegebenheiten sogar bei Jugendlichen nach Ende des Wachstums eine operative Therapie zur Verkleinerung des Magens erlaubt. Dies ist allerdings eine nicht rückgängig zu machende anatomische Veränderung des Magen-/Darmtraktes, was sehr gut überlegt werden muss. Als Alternative ist eine anfängliche medikamentöse Unterstützung der sowieso notwendigen Lebensstiländerung durch eine Abnehmspritze deutlich weniger eingreifend, mit viel weniger Nebenwirkungen und Risiken behaftet und zeigt schneller motivierende Abnehmerfolge. Ist die Lebensstiländerung nachhaltig verankert, sollte versucht werden, die medikamentöse Unterstützung zu beenden, ohne eine folgende Gewichtszunahme im Sinne eines Jojo-Effektes auszulösen. Es ist nicht vorgesehen und wahrscheinlich auch nicht gesund, die Abnehmmedikamente lebenslang zu verschreiben.

Wo kann man die Abnehmspritze verschrieben bekommen? 

In den grösseren Stadtkantonen gibt es an den Kinderkliniken spezialisierte Adipositaszentren, die sowohl die Begleitung in den Themen Ernährung, Bewegung, psychisches Wohlbefinden als auch die medikamentöse Therapie in einem ganzheitlichen und nachhaltigen Behandlungskonzept anbieten können. Da auch die Abnehmspritzen nicht ohne Nebenwirkungsrisiken sind, ist es wichtig, dass sie von ÄrztInnen verschrieben und begleitet werden, die möglichst viel Erfahrung damit haben. Zum Teil bieten die Adipositaszentren auch Gruppenprogramme an, die den Jugendlichen die Möglichkeit geben, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und den Weg der Lebensstiländerung gemeinsam zu gehen.


Frau Egger ist überzeugt, dass ihr Göttibub Andrea mit ihrer Unterstützung und mit Hilfe solch einer ganzheitlichen Begleitung durch verschiedene Fachpersonen inklusive der ärztlich überwachten Abnehmspritze es schaffen kann, sein Körpergewicht zu reduzieren und sein Selbstwertgefühl wieder zu erhöhen, um ein zufriedener und gesunder junger Erwachsener zu werden. Sie wird die Weihnachtsfeiertage dazu nutzen, das Ganze mit ihrem Göttibub und seinen Eltern zu besprechen. 

 

Dr. med. Silke Schmitt Oggier ist die Medizinische Leiterin von sante24. Die telefonische Gesundheitsberatung sante24 ist eine zentrale Dienstleistung von SWICA, die den SWICA-Versicherten bei allen Fragen rund um die Gesundheit unter der Nummer 044 404 86 86 kostenlos zur Verfügung steht. Die Fachkräfte von sante24 vereinbaren bei Bedarf einen Arzttermin und schaffen so die Grundlage für eine koordinierte und zielgerichtete Behandlung – von der ersten Beratung bis zum Therapieabschluss.

 

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